Leseprobe “Zimtschneckentage”

Kapitel eins

»Moin.«
Ich betrat die kleine Bäckerei am Marktplatz und atmete tief ein. Der Duft von frisch gebackenen Bröt-chen, köstlichem Brot und herrlich aussehenden Zimtschnecken erfüllte den ganzen Raum und mischte sich mit dem aromatischen Duft feinster Kaffeekreationen. Ich liebte Bäckereien und Konditoreien. Nahezu meine ganze Kindheit hatte ich in einer Backstube verbracht und zusammen mit meiner Schwester zwischen den Mehlsäcken Verstecken gespielt, meinem Vater an Silvester beim Backen der Berliner geholfen und heimlich von der Schlagsahne genascht. Meinem Vater, dem die Konditorei früher gehörte, hatte ich gerne dabei zugesehen, wie er in der Weihnachtszeit bunte Hexenhäuschen baute und mit Süßkram verzierte oder aus einem großen Klumpen Marzipan die bezauberndsten Figuren formte. Kleine rosa Schweinchen mit Ringelschwänzen aus weißem Zuckerguss oder süße Igel mit Stacheln aus dunkel-brauner Schokolade. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und träumte mich zurück an jenen heimeligen Ort glücklicher Kindertage. Den Duft von Zimt und Bratapfel konnte ich noch immer riechen.

»Mia, was kann ich für dich tun?«
Mariannes raue Stimme holte mich zurück ins Hier und Jetzt.
»Hab ich dich beim Träumen erwischt?«, hakte die schrullige Bäckereiverkäuferin nach und lächelte.
Ich fühlte mich ertappt, strich mir verlegen eine blonde Strähne aus dem Gesicht und erwiderte ihr Lächeln.
»Ja, das hast du«, sagte ich und deutete auf den Tresen, in dem Mandelhörnchen, Napoleonhüte, Eisen-bahnschienen und Zimtschnecken nebeneinanderlagen.
»Zwei Zimtschnecken, bitte.«
»Gerne. Also, wie immer …«, murmelte Marianne, griff zur Zange und packte zwei Zimtschnecken in eine bunte Papiertüte. »Darf es sonst noch etwas sein? Ein Kaffee vielleicht?«
»Nein, heute nicht. Danke, ich bin ein wenig in Eile.« Ich legte ein paar abgezählte Münzen auf den Tresen und wandte mich zum Gehen um.

Marianne Ahrens, die kleine rundliche Verkäuferin, kannte ich seit vielen Jahren. Früher hatte sie in der Konditorei meiner Eltern gearbeitet. Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie schon ihre Ausbildung bei meinen Eltern gemacht. Ein halbes Leben hatte sie in unserem Laden hinter dem Tresen gestanden und Kuchen, Torten, Gebäck und süße gefüllte Teilchen verkauft. Doch nachdem meine Eltern sich in den Ruhestand verabschiedet und die Konditorei verkauft hatten, war Marianne gezwungen, sich einen neuen Job zu suchen. Zum Glück konnte sie schon bald in der Bäckerei am Marktplatz anfangen. Seitdem stand sie hier täglich für jeweils vier Stunden hinter dem Tresen und kannte die Vorlieben ihrer Kunden gut. Auf meinem Weg zur Arbeit machte ich öfter Halt in der kleinen Bäckerei am Marktplatz, um mir für die Arbeit eine Kleinigkeit mitzunehmen. Obwohl ich das Sortiment in- und auswendig kannte, fiel mir die Wahl häufig schwer. Zumindest in dieser Hinsicht war Entscheidungsfreude keine meiner Stärken. Die Auslage zeigte eine süße Köstlichkeit neben der anderen: Eisenbahnschienen, Wienerbrot mit Vanillecreme, Pflaumenmus oder Marzipan, Schokoboller, Nussecken. Wie um alles in der Welt sollte man sich da entscheiden können? Meistens kaufte ich daher zwei Zimtschnecken, eine fürs zweite Frühstück im Büro und eine zum Nachmittagskaffee.

»Tut mir leid, wir schnacken beim nächsten Mal etwas länger. Versprochen. Geht‘s dir denn gut, Marian-ne?« Ich packte die Tüte hastig in meine cognacfarbene Shopping-Bag und sah auf die Uhr. Ich musste mich wirklich beeilen. Mist!
»Alles bestens, Kleines. Und bei dir?«
»Ja, es läuft.« Ich lachte, winkte kurz und drehte mich um. »Wir sehen uns bestimmt am Montag«, sagte ich noch schnell und versuchte, dabei nicht zu gestresst zu klingen, bevor ich im nächsten Augenblick auch schon zur Tür hinaus verschwand.
»Dieses Mädchen, immer in Eile«, hörte ich Marianne hinter mir sagen, während sie sich kopfschüttelnd der nächsten Kundin zuwandte.

Draußen war es ungewöhnlich laut. Über Nacht war neben dem Marktplatz eine der zahlreichen Tages-baustellen, die gerade jetzt zur Ferienzeit überall in der Stadt auftauchten, eingerichtet worden. Warum man sich dazu entschied, gerade dann Straßen und Plätze umzubauen, wenn die Stadt voller Touristen war, würde ich wohl nie verstehen. Das brummende Dröhnen des Presslufthammers schallte durch die angrenzenden Straßen, während auf dem Wochenmarkt die Marktverkäufer verzweifelt versuchten, gegen den Lärm anzuschreien. Ich hielt mir die Ohren zu und huschte über das Kopfsteinpflaster, bis mir ein kleiner älterer Mann mit grauem, schütterem Haar und Nickelbrille auf der Nase von hinten auf die Schulter klopfte.

»Hallo, Mia. Wie wäre es heute mit ein paar frischen Erdbeeren?«
»Herr Fischer, haben Sie mich jetzt aber erschreckt«, neckte ich ihn und legte mir mit gespieltem Entsetzen eine Hand auf die Brust. Trotz Zeitnot ließ ich mich von Herrn Fischer breitschlagen und begleitete ihn zu seinem großen Obst- und Gemüsestand am Rande des Wochenmarkts.
»Hier sieht es aber lecker aus.«
Eine riesige Auswahl frischer Erdbeeren lag neben einem großen Berg roter und grüner Äpfel, während zahlreiche Ananas zu einer Pyramide aufgetürmt worden waren.
»Alles frisch vom Großmarkt geholt heute Nacht. Nur die Erdbeeren nicht. Die kommen von Bauer Johannsens Feldern. Probieren Sie mal«, sagte Herr Fischer und hielt mir eine Schale mit wunderbar duftenden Erdbeeren hin.
Ich nahm mir eine große, leuchtend rote Frucht und kostete.
»Die sind ja köstlich. Ja, davon nehme ich gerne eine Schale mit ins Büro. Dann brauche ich später nicht selbst noch mal raus aufs Feld«, sagte ich und hielt Herrn Fischer einen schwarzen Stoffbeutel hin, damit er die Schale darin verstauen konnte.
»Hab ich Ihnen doch gesagt. Bei mir gibt‘s nur beste Ware«, meinte Herr Fischer selbstzufrieden und pries weiter sein Obst und Gemüse an. »Darf es sonst noch etwas sein? Kartoffeln vielleicht? Ich hab neue Kartoffeln hier. Oder Brokkoli? Wie wäre es mit Bananen?«
»Nein, danke. Heute wirklich nicht. Ich muss zur Arbeit und bin jetzt schon viel zu spät dran. Aber viel-leicht schaffe ich es, nächste Woche auf dem Markt vorbeizuschauen. Dann mache ich bei Ihnen einen Großeinkauf. Versprochen.« Ich zwinkerte dem alten Mann zu.
»Mia, Sie werden doch wohl nicht etwa mit mir flirten?«, scherzte Herr Fischer und gab mir den schwarzen Jutebeutel zurück.
»Herr Fischer, jetzt haben Sie mich aber erwischt! Wir sehen uns.« Ich lachte, reichte einen Fünfeuroschein über den Stand und drehte mich um. »Stimmt so.«
»Bis nächste Woche dann«, rief Herr Fischer mir hinterher, und ich winkte noch einmal fröhlich über die Schulter.

Der Lärm des Presslufthammers war kaum aus-zuhalten. Ich beeilte mich, nicht nur, um pünktlich in der Redaktion zu sein, sondern auch um dem Krach endlich zu entkommen. Die armen Wochenmarktver-käufer taten mir leid. Würde der Lärm bis zum Abend anhalten, wären einige von ihnen bestimmt taub oder würden mit einem Tinnitus beim Ohrenarzt sitzen. Schon jetzt am Vormittag war die Fußgänger-zone gut mit Touristen gefüllt, die im Sommer immer in Scharen in die Stadt kamen, sodass ich abwechselnd nach links und rechts huschen musste, um überhaupt voranzukommen. Jetzt, im Som-mer, war immer besonders viel los, während es im Winter in der Stadt nur an den Wochenenden richtig voll wurde. Dank einer aufwendigen Marketingkampagne hatte sich die kleine Stadt am Meer in den vergangenen Jahren zu einem wahren Shoppingmekka entwickelt und lud Touristen aus dem In- und Ausland zum gemütlichen Bummeln und Verweilen ein. Die Fußgängerzone bot alles, was das Shoppingherz begehrte: große Einkaufspassagen mit den üblichen Modeketten und kleine, feine Boutiquen mit einem ausgewählten Sortiment. Berühmt und beliebt waren vor allem die zahlreichen alten Kaufmannshöfe, deren Speicher nach und nach liebevoll saniert worden waren und jetzt unter anderem Hotels, gemütliche Cafés oder Wohnungen beherbergten.
Am Hafen reihten sich, ähnlich wie in Kopenhagens Nyhavn, kleine bunte Häuser in Gelb, Blau, Grün und Rot aneinander und schufen so eine charmante Postkartenkulisse, die man ohne Weiteres als hyggelig, also gemütlich, bezeichnen konnte.
Heute waren vorwiegend Urlauber aus Skandinavien in der Fußgängerzone unterwegs. Ich lief unter den aufgespannten Sonnenschirmen der Cafés hindurch in Richtung Medienhaus, das vor einiger Zeit am Hafen errichtet worden war. Fast ein Jahr lang war das alte Getreidesilo auf der Ostseite des Hafens in ein schickes Verlagshaus umgebaut worden. In die dicken Betonmauern waren etliche graue, bodentiefe Sprossenfenster eingebaut und die Fassade war mit gelb-roten Backsteinen verklinkert worden, sodass nun alles an einen alten Getreidespeicher erinnerte.

Gleich zwei Zeitungen und ein Magazin hatten im Medienhaus seitdem ein neues Zuhause gefunden. Das Morgenjournal, die Tageszeitung der Stadt, Unsere Woche, das kostenlose Anzeigenblatt der Stadt, und Hygge & Meer, ein überregionales Lifestyle-Magazin, das im Kielwasser der weltweiten Hygge-Bewegung aus dem Boden gestampft worden war und sich mittlerweile am norddeutschen Markt positionieren konnte. Ich hatte bei Hygge & Meer vor zwei Jahren angeheuert und war seitdem nicht nur umtriebige Reporterin, die überall in der Region unterwegs war, neue Lifestyle-Trends auf-spürte und über zauberhafte Häuser und traumhafte Gärten berichtete. Ich hatte es auch geschafft, mir einen festen Platz im Magazin zu sichern und vor etwa einem halben Jahr meine Kolumne Mias Welt ins Leben gerufen. Ursprünglich war es nur ein Notnagel gewesen, um eine Lücke in der Januar-ausgabe zu füllen. Doch meine Kolumne und die Sichtweise auf das Leben im Land zwischen den Meeren war glücklicherweise so gut angekommen, dass Mias Welt aus dem Magazin inzwischen nicht mehr wegzudenken war.
»Mia, diese Idee ist genial gewesen. Das war genau das, was unserem Magazin noch gefehlt hat. Deine Ideen sind so inspirierend«, hatte Frida, meine Chefredakteurin, gejubelt und mir eine dicke Gehalts-erhöhung zugesagt, von der nach Abzug der Steuern allerdings nicht mehr allzu viel übrig blieb. Immerhin reichte es dafür, dass ich aus meiner Einzimmerwohnung im Süden der Stadt in eine schicke Neubauwohnung mit Dachterrasse im Westen umziehen konnte. Außerdem hatte sich Mias Welt von der Kolumne zu einem eigenständigen Ressort entwickelt. Mindestens vier Seiten in den monatlichen Ausgaben gehörten mir und Mias Welt, sodass die Leserinnen und Leser nicht mehr nur meine Kolumne, sondern auch spannende Reportagen, Lifestyle-Tipps und kulinarische Empfehlungen zu lesen bekamen. Ich hatte es geschafft und konnte nicht verhehlen, dass ich ein wenig stolz auf mich war. Als ich die Hafenspitze erreichte, war es bereits neun Uhr.

Mist! Ich beschleunigte mein Tempo und ärgerte mich über mich selbst. Pünktlichkeit gehörte neben Verlässlichkeit zu einer der Eigenschaften, die Kollegen und Freundinnen besonders an mir schätzten. Ich kam nie später als neun in die Redaktion. Nicht ganz uneigennützig, denn so hatte ich immer noch Zeit, in Ruhe einen Kaffee zu trinken und mich auf die tägliche, quälend lange Redaktionssitzung um zehn Uhr vorzubereiten. Gerade heute wollte ich besonders pünktlich im Büro sein. Meine Chefredak-teurin hatte gestern Abend noch zu einer außerordentlichen Redaktionssitzung um halb zehn am Vormittag eingeladen und große Neuigkeiten angekündigt. Auch die Worte »Umstrukturierung« und »neue Ideen« waren gefallen. Und ausgerechnet heute war ich zu spät dran, weil mein blöder Wecker nicht geklingelt hatte. Dabei war ich mir sicher gewesen, dass ich ihn gestern Abend angeschaltet hatte.

In meiner Tasche piepte das Handy. Hastig warf ich einen Blick darauf.
ALLES AUS!!!
Die großen Buchstaben waren nicht zu übersehen. Die Nachricht war von Henrieke, meiner besten Freundin.
Ich drückte die Taste für Sprachnachrichten.
»Hallo Henrieke. Ich bin gerade auf dem Weg zur Arbeit und schon zu spät dran. Wir haben gleich eine außerordentliche Sitzung, auf der Neuigkeiten verkündet werden sollen. Ich hab keine Ahnung, was da schon wieder los ist. Aber darum geht‘s jetzt nicht. Was ist denn passiert? Was ist aus? Doch nicht etwa die Sache mit Kim?«, quasselte ich ins Handy und drückte auf Senden. Trotz Stress hatte ich das Bedürfnis, mich nach Henrieke zu erkunden. Außerdem war ich extrem neugierig und wollte wissen, was genau der Grund für Henriekes Nachricht war. Es dauerte keine Minute, bis es erneut piepte.
»Und wie es aus ist mit Kim! Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Der Idiot hat mich betrogen. Mit Kessi oder Moni oder wie auch immer die Trulla heißt! Ich erzähl dir später mehr. Viel Spaß beim Meeting. Melde dich, wenn‘s vorbei ist. Wollen wir heute Abend was trinken gehen?«
Henriekes Stimme überschlug sich förmlich, so in Rage war sie. Jetzt packte mich doch das schlechte Gewissen, weil ich mir im Moment nicht mehr Zeit für sie nehmen konnte.
Oh, dieser Mistkerl! Lass uns heute Abend Bei Bo treffen. Ich melde mich, sobald ich das Meeting überstanden habe. Vielleicht kann ich heute auch früher Feierabend machen, dann können wir nachmittags zum Strand fahren und uns den Meereswind um die Stirn pusten lassen. Ich drück dich
schickte ich zusammen mit einem Kuss-Emoji per WhatsApp an Henrieke zurück.
Ich blickte auf meine Uhr. Es war zehn Minuten nach neun.
»Oh, Mist, Mist, Mist!« Schimpfend betrat ich das Medienhaus.

Edel Elements